Migration – eine Weihnachtsgeschichte

Wien, im Jahr 2053. Die Kommunikationschefin des Klinikum Mariahilf erzählt die Geschichte ihrer Vorfahren: Mitte der 2020er Jahre begann ein verstärkter Zuzug von Kenianerinnen und Kenianern nach Österreich. Die Regierungen beider Länder hatten ein Abkommen über den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte abgeschlossen. Ihre Großeltern waren dabei, der Großvater ein Softwareentwickler, die Großmutter eine Krankenschwester. Beide hatten bereits Arbeitsverträge in der Tasche, als sie in Österreich eintrafen.

Mittlerweile haben weit über ein Viertel der in Österreich und Deutschland lebenden Menschen einen afrikanischen Migrationshintergrund. Seit 2030 sind Nigeria, Kenia und Tansania die wichtigsten Herkunftsländer und lösten damit Rumänien, Serbien und die Türkei ab.

Die Zuwanderungswelle afrikanischer Fachkräfte war die Folge eines abrupten Politikwechsels in Europa. Als im Jahr 2024 immer mehr junge Männer aus dem arabischen Raum und aus afrikanischen Ländern nach Europa strömten und die irreguläre Migration auf einen neuen Höhepunkt zusteuerte, nützte die russische Regierung in ihrer hybriden Kriegsführung gegen den Westen die Situation. Um die Länder der Europäische Union zu destabilisieren, flog sie tausende Personen aus der Sahelzone nach Minsk und brachte sie von dort an die Grenzen zu Litauen, Lettland, Estland und Finnland.

Daraufhin brach in der Europäischen Union politisches Chaos aus. Nach Italien und Holland, kam auch in Österreich eine ausländerfeindliche rechte Partei an die Macht und stellte den Bundeskanzler. Unter dem Druck dieser Ereignisse wurden auf europäischer Ebene schließlich die ideologischen Grabenkämpfe überwunden. Es waren zwei Maßnahmen, die den Umschwung brachten: Der unmittelbare Transport irregulär ankommender Menschen in Länder außerhalb der Europäischen Union. Und großzügige bilaterale Abkommen mit über dreißig afrikanischen Staaten zum Zuzug afrikanischer Fachkräfte nach Europa.

Ausbildungsboom in Afrika

Die Verlagerung der Asylverfahren aus Europa hinaus hatte die irreguläre Migration mit einem Schlag um über neunzig Prozent reduziert. Denn plötzlich war die den Einwanderern sicher erscheinende Möglichkeit weggefallen, nach Ankunft dauerhaft in Europa bleiben zu können. Die wiedererlangte Kontrolle darüber wer in europäische Länder einreist, beruhigte schließlich die Menschen in Europa und der Siegeszug rechtsextremer ausländerfeidlicher Parteien kam zu einem Ende.

Vor allem aber brachten die Migrationsabkommen mit afrikanischen Staaten den Ländern auf beiden Kontinenten große Vorteile: Afrikanische Regierungen konnten den vielen jungen Menschen in ihren Ländern plötzlich Arbeitsplätze in Europa anbieten und die europäische Wirtschaft konnte wieder auf junge Fachkräfte zugreifen.

In dieser Zeit wurde am afrikanischen Kontinent der Grundstein für einen einzigartigen Boom der Ausbildungsindustrie gelegt. Von Krankenpfleger bis Automechaniker, von Tourismusfachkräften bis KI-Experten. Die Hoffnungen von Millionen junger Afrikanerinnen und Afrikaner auf ein besseres Leben konnten plötzlich mit Ausbildungsprogrammen statt mit Schleuserrouten nach Europa befriedigt werden.

Und nicht umsonst arbeiten heute besonders viele Afrikanerinnen und Afrikaner im Gesundheitsbereich und im Tourismus. Denn Beziehungsorientierung und Kommunikationsfähigkeiten zählen zu den Stärken afrikanischer Kulturen.

Wiedererstarken der liberalen Gesellschaft

Die Auflösung der Interessensgegensätze in der Migrationsfrage bewirkte eine wieder stärkere Bindung zwischen den afrikanischen und europäischen Ländern. Zusammen mit den dann folgenden hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten in Afrika ließ dies ein geistiges Klima entstehen, in dem die Werte liberaler Gesellschaften plötzlich wieder geschätzt wurden. Begriffe wie Freiheit oder Demokratie waren plötzlich wieder positiv besetzt.

Mit diesem Paradigmenwechsel in der „Welt der Ideen“ konnte schließlich der Einfluss der in den 2020er Jahren erstarkten autoritären Regierungen auf der Welt zurückgedrängt werden.

Die Zukunft ist offen

Soweit die Weihnachtsgeschichte.

Ganz andere Szenarien erscheinen mir heute, zum Ausklang des Jahres 2023, möglich und vielleicht auch wahrscheinlicher. Zum Beispiel eines, das Michel Houellebecq in seinem Roman „Die Unterwerfung“ beschrieben hat. Eine französische islamische Gesellschaft, die den Schritt zurück zu einer neuerlichen Verbindung von Staat und Religion macht. Eine Abkehr von Aufklärung und Freiheit der Bürger, im Zeitalter digitaler Überwachung. Hinzu kommt womöglich auf gloabler Ebene ein autoritäres China als Supermacht, dem das militarisierte Russland als Weltpolizist zur Seite steht.

Fakten

Wie es in Europa und auf der Welt weitergeht, wird jedenfalls auch von uns abhängen. Dabei sollten wir von den derzeitige Realitäten ausgehen:

  • Das Medianalter der Bevölkerung liegt in Europa bei 44 Jahren, in Afrika bei 19 Jahren.
  • 1950 stellte Europa fast ein Viertel der Bewohner der Welt (21,7%), heute sind es weniger als 10%, 2050 werden es 7% sein.
  • In Afrika lebten im Jahr 1950 230 Millionen Menschen, 9 Prozent der Weltbevölkerung. Heute sind es knapp 1,4 Milliarden (17%) und 2050 sollen es 2,4 Milliarden (25%) sein.

Und klar sollte uns sein, dass …

  • … die Menschen aus afrikanischen Ländern nicht nach Europa drängen, weil es ihnen immer schlechter geht und sie immer ärmer werden. Sondern im Gegenteil, weil viele erstmals die Möglichkeit haben, ihr Glück woanders zu versuchen! Denn obwohl immer mehr Menschen aus der absoluten Armut herauskommen, bleiben die große Wohlstandsunterschiede noch lange bestehen und werden in einer immer enger vernetzten Welt immer spürbarer.
  • … immer mehr afrikanische Regierungen eine Politik verfolgen, die für ihre Jugend Arbeitsplätze im Ausland schaffen will. So sucht die derzeitige kenianische Regierung für eine Million KenianerInnen qualifizierte Arbeit in Ländern mit höherem Einkommen.
  • … die derzeitige Asylkrise in Europa seriöse und gut ausgebildete AfrikanerInnen davon abhält, in Europa Arbeit zu suchen (so die Aussagen afrikanischer Diplomaten).
  • Rücknahmeabkommen mit afrikanischen Regierungen nur dann möglich sein werden, wenn Europa etwas zu bieten hat, zB gute und nachhaltige Arbeitsplätze für die afrikanische Jugend.

Ich wünsche allen ein schönes Weihnachtsfest und dass sich einige unserer selbst ausgedachten Weihnachtsgeschichten auch erfüllen mögen!

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